Sozialpolitik bedarf tiefgreifender Reformen

Professor Stefan Sell tritt für Verfassungsänderung im Interesse einer nachhaltige Sozialpolitik ein

sell„Rheinland-Pfalz hat eine im Bundesvergleich gute Kinderbetreuung und Remagen kann sich dabei auch im Landesvergleich sehen lassen. Gerade Investitionen in Kindergärten und Kindertagesstätten sind dabei nicht nur für die Kinder gut, sondern auch für die Eltern und ganz besonders für den Staat. Noch nie waren so viele Frauen berufstätig wie heute, was auch für die Unternehmen in Deutschland überaus erfreulich ist. Und für den Staat ist die Investition in die Kinderbetreuung geradezu kostenneutral. Schon von jedem Euro, der an Gehältern für die Betreuerinnen bezahlt wird, kommen sofort 48 Prozent in Form von Steuern und Sozialabgaben wieder in die öffentlichen Kassen“, so der Sozialpolitik- und Arbeitsmarktexperte Professor Stefan Sell am Sonntag im Rahmen der öffentlichen  Fraktionssitzung von Bündnis 90/Die Grünen in der „Casa Antonio Lopez“ in Remagen.
Stefan Sell, der am Remagener Standort der Hochschule Koblenz lehrt, begeisterte die zahlreich erschienenen Zuhörer mit seinem pointiert und mit Witz präsentierten Vortrag über das deutsche Sozialsystem, die in den nächsten Jahren zu erwartenden Probleme und mögliche Lösungen. 770 Milliarden Euro, so der Referent, würden hierzulande derzeit pro Jahr für das Sozialsystem ausgegeben. 60 Prozent davon gingen in Renten- und Krankenversicherung. Für die Kinderbetreuung und Jugendhilfe stünden dagegen gerade einmal 23 Milliarden zur Verfügung und hiermit seien nicht nur Kindergärten und Kindertagesstätten abgedeckt, sondern auch die Jugend- und die Jugendsozialarbeit.

Wenn Geld im Sozialsystem eingespart werden müsse, so Stefan Sell, dann mache es also keinen Sinn, hier den Hebel anzusetzen. Gespart werden müsse allerdings unbedingt angesichts der Alterentwicklung in Deutschland, vor allem aber bedürfe es grundlegender Reformen der Sozialsysteme einschließlich von Verfassungsänderungen.

„Vor allem muss der Bund die Gemeinden und Kreise deutlich stärker von sozialen Aufgaben entlasten oder aber die Steuerzuweisungen erhöhen. Eine Gemeinde wie Remagen trägt – mit Unterstützung des Kreises – einen Teil der Sozialhilfeleistungen. Hierzu gehört zum Beispiel die Grundsicherung im Alter. Bereits 400.000 alte Menschen bekommen diese Unterstützung. Würden alle, die Anspruch auf Hilfe haben, dies auch tatsächlich anmelden, so wären dies rund 1,2 Millionen Senioren – und entsprechend die Ausgaben auch drei Mal so hoch wie bisher. Angesichts des zunehmenden Alters der Bevölkerung und der vielen Millionen Niedrig-Lohnarbeitsplätze und der gerade im Kreis Ahrweiler verbreiteten 400-Euro-Jobs, wird die Zahl der hilfsbedürftigen alten Menschen in Zukunft drastisch ansteigen“, so Sell. Dies müsse bei den Ausgleichszahlungen des Bundes an die Kreise und Städte berücksichtigt werden.

Besonders belastet werden die Kassen von Stadt und Kreis auch durch die Eingliederungshilfe von Menschen mit Behinderung. Auch hier ist die Unterstützung des Bundes bisher unzureichend. Ganz besonders dramatisch werde es jedoch in Zukunft durch die wenig durchdachte Praxis der Pflegeversicherung in Deutschland werden. Diese decke nur einen kleinen Teil der tatsächlichen Pflegekosten ab, etwa ein Drittel. Die Kosten für Betreuung oder Heimunterbringungen müssen deshalb zuerst durch die eigene Rente der Betroffenen ergänzt werden. Da diese oft nicht ausreiche, müssten die Betroffenen auch auf ihre Ersparnisse zurückgreifen. Seien diese aufgebraucht, so hätten die Kinder zu zahlen und hätten diese kein Geld, so seien am Ende eben die Gemeinden zu Hilfeleistungen verpflichtet. Die Zahl der Pflegebedürftigen, die so auf Gelder der Gemeinden angewiesen seien, steige derzeit deutlich und sie werde in Zukunft geradezu explodieren.

„Wer nicht will, dass eine Stadt wie Remagen durch solche unstrittig notwendige Zahlungen überfordert und zum Beispiel gezwungen wird, andere Leistungen für ihre Bürger wie Jugendarbeit oder Schwimmbäder ganz einzustellen, muss sich für eine grundlegende Reform der Sozialsysteme und ihre Finanzierung einsetzen. Leider geschieht in Berlin derzeit das Gegenteil: alleine durch die Mütterente würden 2014 sechs Milliarden Euro zusätzlich benötigt, die Rente mit 63 Jahren kostet weitere Milliarden. Da diese Wahlgeschenke nach Ansicht der Großen Koalition nicht aus Steuergeldern finanziert werden sollen, zahlen die Versicherten diesen Beitrag am Ende selbst“, so der Referent.

Ganz besonders kritisierte Professor Sell am Ende seiner Ausführungen den scheinbaren Verzicht der Bundesregierung auf eine Neuverschuldung im laufenden Haushalt. „Wenn den Sozialversicherungen Milliarden an gesetzlich eigentlich vorgesehenen Bundeszuschüssen entzogen werden, kann man leicht eine schuldenfreien Haushalt verkünden. Nur bedeutet dies wahrscheinlich schon im nächsten Jahr höhere Krankenkassenbeiträge und einen niedrigeren Rentenzuwachs“. Als denkbare Lösungen wurde in der anschließenden Diskussion unter anderem die Einführung der Bürger-Krankenversicherung genannt, für die sich die Grünen und bis zum Koalitionsbeschluss mit der CDU auch die SPD eingesetzt hatte.

Für die Ratsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen dankten Fraktionssprecher Frank Bliss und Gastgeber Antonio Lopez, der für die Grünen als Ortsvorsteher-Kandidat bei den Kommunalwahlen im Mai antritt, dem Referenten mit einer exquisiten Flasche biologisch angebautem Rotwein von der Ahr. Gleichzeitig verwiesen sie auf die nächste Veranstaltung am Sonntag, den 6. April, bei der Landespolitiker aus Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen mit den Gästen unter anderem über die Anbindung Remagens und seiner Ortsteile an den öffentlichen Personennahverkehr diskutieren werden.

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